Kompass-Newsletter Nr. 56 – Februar 2017 (pdf)
+++ 4.2. in Frankfurt: Demo für Wohnraum für Alle +++ 10./11.2. in London: Treffen der Transnationalen Sozialen Streik Plattform zum Migrant Strike am 20.2. in UK +++ 11.2. vor den Landtagen mehrerer Bundesländer: Demos für einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan +++ 13 weitere Charter nach Kabul geplant: Afghanistan Abschiebungen stoppen! +++ 8.3.: Global Women Strike +++ 18.3.: Transnationaler Aktionstag gegen Grenz- und Krisenregime +++ 25./26.3. in Berlin: Get Together 2017 – für eine gemeinsame AntiRa-Konferenz im Herbst 2017? +++ Zaunkämpfe in Ceuta +++ Zentrales Mittelmeer/Alarm Phone: „They want the Sea to Kill – We want a Bridge to Life!“ +++ Welcome to Europe zur Situation in Griechenland +++ Balkanroute: Push Backs, Familienzusammenführung, Mazedonien/Serbien +++ Taz-Dossier-Migrationskontrolle +++ Zufluchtsstädte – Solidarity Cities +++ Rückblicke: Neue Zeitung von Afrique-Europe-Interact; Oury Jalloh Demo Dessau; AntiRa-Aktionskonferenz in Karlsruhe; Refugee Black Box Jena +++ Ausblicke: Gegen den G20 in Hamburg +++
Liebe Freundinnen und Freunde!
Das neue Jahr beginnt so schrecklich wie das alte endete: das Massensterben im Mittelmeer geht weiter, ein zweiter Abschiebecharter startet aus Frankfurt nach Afghanistan, die Dublin-Rückschiebungen nach Griechenland sollen wieder aufgenommen werden. Der grässliche Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin dient als willkommener neuer Anlass für rechte Hetze und neue Sicherheitsgesetze… und dann auch noch Trump! Kann es noch schlimmer kommen?
Es kann, wie wir auch aus den letzten 25 Jahren des Kampfes um Asylrecht und Bewegungsfreiheit wissen. In den 90er Jahren waren rassistische Stimmungsmache und Angriffe in Deutschland noch krasser, Abschiebungen endeten bisweilen tödlich und massenhafte Abschiebehaft erschien als Normalzustand. 2008 fiel die Zahl derer, denen es überhaupt gelang, in Deutschland Asyl zu beantragen, unter 30.000 und bis Ende 2010 waren Dublin-Abschiebungen nach Griechenland Alltag. Aus einer migrationspolitischen Perspektive und in einem längerfristigen Rückblick mögen die Jahre 2011 bis 2015 für eine Phase des Aufbruchs stehen. Der arabische Frühling bereitete der damaligen – im herrschenden Sinne erfolgreichen – Vorverlagerung der Abschottung nach Nordafrika ein Ende, es kam auch in Germany zu einer ganzen Reihe politisch-medialer Erfolgsmomente der Fluchtbewegungen (wie beispielsweise gegen die Residenzpflicht und mit dem Marsch von Würzburg nach Berlin), zu einigen juristischen Verbesserungen (z.B. für Sozialleistungen entsprechend ALG II und gegen die Abschiebehaft) bis dann zum Durchbruch auf der Balkanroute. Dort wurde das EU-Grenzregime für einige Monate regelrecht überrannt und damit herausgefordert wie nie. Beachtlichen Niederschlag findet das bis heute in den amtlichen Statistiken, ein Blick auf den „Geschäftsbericht für Dezember 2016“ des Bundesamtes für Flucht und Migration lohnt. Hier heißt es zusammenfassend: „Im Berichtsjahr 2016 wurden insgesamt 695.733 Entscheidungen über Asylanträge getroffen. Dabei lag die Gesamtschutzquote für alle Herkunftsländer im Berichtsjahr 2016 bei 62,4 % (433.920 positive Entscheidungen von insgesamt 695.733).“
Über 430.000 Geflüchtete – die Mehrheit von ihnen hatte sich noch 2015 durchgekämpft – haben also in 2016 einen Aufenthaltsstatus erhalten. Das übertrifft alle Zahlen der letzten 30 Jahre bei weitem und sollte auch in seiner perspektivischen Wirkung nicht unterschätzt werden. Mit diesem Schub hat sich die Fluchtmigration in neuer Dimension in den hiesigen sozialen Realitäten verankert.
Daran können und müssen wir anknüpfen, auch wenn die Vorzeichen für 2017 zunächst in Richtung eines weiteren Roll Back weisen.
Die neoliberalen Regierungen haben sich – wo sie noch das Sagen haben – für eine aggressive Externalisierung (siehe dazu die Recherche unter taz.de/migrationcontrol) entschieden und agieren – vom rechtspopulistischen Spektrum und von Angstkampagnen angetrieben – vor allem mit sogenannter Sicherheitspolitik. Wo die extreme Rechte an der Macht ist, wie in Ungarn, oder an die Macht kommt, wie jetzt in den USA, eskaliert die offene rassistische Ausgrenzung. Falls im Frühjahr in Frankreich Le Pen die Wahlen gewinnt, muss eine neue Welle struktureller rassistischer Gewalt für Europa befürchtet werden. Auch wenn ein Wahlsieg der AfD in Deutschland bislang unmöglich erscheint, macht es für die kommenden Jahre einen Unterschied, ob diese Hetzpartei im September mit 15 oder 25 % in den Bundestag einzieht.
Flucht und Migration sind und bleiben absehbar ein zentrales gesellschaftliches Thema, an dem sich die gesellschaftliche Polarisierung aller Voraussicht nach weiter zuspitzen wird. Die hiesige AntiRa-Bewegung – gedacht in ihrer ganzen Breite von beständigen Willkommensinitiativen bis zu den Selbstorganisationen der Geflüchteten, von Flüchtlingsräten bis zu Noborder-Gruppen – hat das Potential, in dieser Auseinandersetzung einen progressiven Pol auszubilden und zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung für ein offenes Europa entscheidend beizutragen.
Dazu bedarf es einerseits eines sehr viel verbindlicheren Prozesses überregionaler Vernetzung und Koordination. Bislang erscheint nur ein kleiner Teil der Bewegung zur Mitwirkung bereit, doch dafür stehen die unten genannten Bemühungen, mit dezentralen Aktionstagen (zunächst am 18. März) sowie mit einer potentiellen größeren Konferenz im Herbst diesen Prozess verstärkt in Gang zu bringen.
Zum zweiten benötigen wir eine umfassendere Vision, einen konkreten Entwurf alltäglicher praktischer Solidarität, der im Lokalen verankert sein muss. Beispielhaft sei dazu aus einer Veranstaltungsankündigung von Mitte Januar 2017 in Freiburg zitiert.
„Freiburg: eine Zufluchts-Stadt, die alle ihre Bewohner/innen schützt!Städte wie Freiburg sind aber dem Wohlergehen aller Stadtbürger/innen verpflichtet, nicht nur dem Wohlergehen deutscher Staatsbürger/innen. Staatsangehörigkeit und Aufenthaltstitel sollten nicht dazu führen, dass es in der Stadt Bürger/innen zweiter und dritter Klasse gibt. Deshalb hat sich in den USA, Kanada und Großbritannien die Bewegung der Sanctuary Cities, der Zufluchtsstädte, entwickelt. Mehrere hundert Städte haben sich zu Zufluchtsstädten erklärt, die Allen einen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten wollen und die sich weigern, an Repressionsmaßnahmen gegen Illegalisierte und an Abschiebungen mitzuwirken. So auch die Freiburger Partnerstadt Madison in den USA. Die Stadt Madison hat Mitte November 2016 erklärt, dass sie ihre Politik trotz der Drohnungen Trumps gegen Sanctuary Cities nicht ändern wird. Inzwischen hat sich auch in Europa ein Netzwerk von Zufluchtsstädten entwickelt, an dem sich unter anderem Barcelona und Oxford beteiligen. Die Stadtregierung in Barcelona unter Bürgermeisterin Ada Colau fordert die Bildung eines europäischen Netzwerkes von rebellischen Sanctuary Cities. Wir wollen in Freiburg eine Debatte darüber anregen, wie es gelingen kann, Freiburg zu einer Stadt für Alle zu erklären. Wir wollen die kommunale Politik, lokale Institutionen (Kindergärten, Schulen, Betriebe, Kammern, Krankenhäuser ….) und die Zivilgesellschaft dazu aufrufen, dass Freiburg sich der Bewegung der Sanctuary Cities anschließt. Wir möchten darüber diskutieren, welchen kommunalen Gestaltungsraum wir einfordern und nutzen können. Welche Inhalte könnte ein Übereinkommen über eine Zufluchtsstadt Freiburg haben?“
Rund 300 Interessierte waren zu dieser Veranstaltung in Freiburg gekommen, und es mehren sich an vielen Orten die Zeichen, kommunale Initiativen und Zufluchtsprojekte in einer umfassenderen Perspektive für eine offene und solidarische Gesellschaft anzupacken. „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ – diese sozial übergreifende Frage schwingt immer mit und indem diese Ansätze greifbare Alternativen zur neoliberalen wie auch zur rechtspopulistischen Ausgrenzungs- und Spaltungspolitik entwickeln, machen sie den Kampf um gleiche Rechte für Alle zu einer konkreten Alltagspraxis.
In diesem Sinne – auf ein solidarisch-offensives 2017!
Die Kompass Crew