DublinII? muss weg!
Das innereuropäische Grenzregime stößt auf immer stärkeren Widerstand
Bei der „No Border lasts Forever“-Konferenz im Dezember vergangenen Jahres deutete es sich schon an und am 13 Januar 2011 war es soweit: das Bundesinnenmisterium musste die Dublin-Abschiebungen nach Griechenland für ein (erstes) Jahr aussetzen. Immer mehr europäische Länder folgten, eine erster Damm im innereuropäischen Grenzregime war gebrochen. Die DublinII-Regelung war damit zum ersten Mal seit bestehen wirklich empfindlich getroffen.
Zur Erinnerung: die Abschiebungen nach Griechenland waren vor allem wegen der menschenrechtswidrigen Haftbedingungen und wegen des nicht vorhandenen Zugangs zum Asylverfahren immer stärker von verschiedenen Seiten in die Kritik geraten. Letztlich de facto gestoppt wurden sie nach einem bahnbrechenden Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR), der in einem Präzedenzfall („M.S.S.“) nicht nur Griechenland wegen menschenrechtswidriger Haftbedingungen verurteilte, denen der Kläger ausgesetzt war, sondern auch Belgien (von dort war er abgeschoben worden), weil Belgien sich hätte vorher vergewissern müssen, dass dies nicht geschieht.
Dass es soweit kam, daran haben viele Beteiligte eine Rolle gespielt: verschiedene NGOs (hierzulande vor allem Pro Asyl), die bereits jahrelang die Flüchtlingssituation in Griechenland als „humanitäre Katastrophe“ skandalisierten, unzählige Dokumentationen einzelner Fälle, AnwältInnen (zum Zeitpunkt der M.S.S.-Entscheidung waren Hunderte von griechischen Dublin-Fällen allein vor dem EGMR anhängig, zudem gab es in Deutschland über ein Dutzend gestoppte Abschiebungen durch das Bundesverfassungsgericht), das Nobordercamp auf Lesvos im Sommer 2009 und die damit verbundene Dokumentation der Hungerstreiks und Kämpfe gegen das Internierungslager Pagani…
Die Hauptrolle spielten jedoch diejenigen, die mit dem Mut der Verzweiflung immer wieder auf’s neue losgingen. Als wir im Sommer 2010 in Athen mit Abgeschobenen sprachen, mußten wir nicht lange suchen: an jedem Platz, an dem sich obdachlose Flüchtlinge aufhielten, fanden sich Abgeschobene aus allen europäischen Ländern. Manche hatten bereits 3-4-5 Abschiebungen hinter sich und gingen immer wieder auf’s neue los. Gegen die Abschiebungen nach Griechenland dokumentierten sie die dortigen Erlebnisse selbst und gaben sie zu Protokoll, sie klagten gegen ihre Rückschiebungen vor Gericht, manche gingen in Hungerstreik, es kam zu Wellen von teils massiven Selbstverletzungen, um der Abschiebung zu entgehen.
Und die Flüchtlinge rannten immer und immer wieder an gegen Dublin II, indem sie sich wieder auf den Weg machten.
Unter dem Eindruck, dass sich mit dem Stopp der Griechenland-Abschiebungen das komplette Dublin-II-System als angreifbar entpuppen würde, war dies zunächst das Etappenziel einer Kampagne gegen Dublin II, auf die sich das Netzwerk Welcome to Europe eingeschworen hatte. Bei der letztjährigen Konferenz hat sich bereits angedeutet, dass diese Etappe zu schaffen sein würde und so gab es eine erneute Verschwörung: die Rückschiebungen in vier weitere Länder zu erschweren und schließlich zu stoppen, nämlich Italien, Polen, Ungarn und Malta. Und damit ein Land nach dem anderen auszukegeln – bis irgendwann die Zielländer wieder erreichbar wären, bzw. Dublin II als Instrument komplett auf dem Müllhaufen der Geschichte landen würde.
In diesem ersten Jahr nach dem Griechenland-Abschiebestopp ist es zwar noch nicht gelungen, generelle Abschiebungstopps in andere Länder zu erzwingen. Die Maschinerie ist jedoch durchaus ins Stottern geraten: zumindest zu Italien gibt es inzwischen reihenweise Gerichtsurteile, in Einzelfällen gelingt es de facto Selbsteintritte durch Fristverstreichung zu erreichen. Und es gibt neben dem starken Widerstand der Flüchtlinge auch immer mehr europäische Unterstützungsstrukturen:
Dublin II-Überstellungen sind Abschiebungen (und inzwischen gibt es übrigens z.B. vom Frankfurter Flughafen aus nahezu genauso viele innereuropäische Abschiebungen wie Abschiebungen in die Herkunftsländer). Abschiebedrohungen lassen die Menschen nicht ruhig schlafen und die Gedanken in diesem „versteckten Gefängnis Dublin“ (so haben es eriträische Flüchtlinge in einem Interview genannt) kreisen oftmals verzweifelt. Und selbst die Zuhörenden packt diese Verzweiflung dann manchmal. Wir sind dennoch überzeugt: es lohnt sich immer wieder zuzuhören. Denn das Teilen der Momente von Verzweiflung schafft die Grundlage geteilter Wut, mit der wir die Dublin II-Verordnung auf den Müllhaufen der Geschichte fegen können.
Unerwähnt bleibt an dieser Stelle das aus den Reisen und direkten Kontakten entstandene soziale Netz von Athen bis Oslo, von Ushgorod bis Stockholm, von Istanbul bis Paris, Malta bis Hamburg oder Oujda bis London, in dem sich manchmal erahnen lässt, dass Europa auch etwas ganz anderes sein könnte, ein neu zu erfindender Ort.
Diese Geschichte wird noch zu schreiben sein.