Kompass-Newsletter Nr. 43 – Oktober 2015 (pdf)
+++ Refugees Welcome +++ bordermonitoring.eu-liveticker und w2eu-live-blog +++ On Hope: Kämpfe der Flucht und Migration im Balkan +++ On Challenge: soziale Ausweitung! +++ Hamburg: Roma-Besetzung gegen Abschiebung +++ 2.-3.10. in Frankfurt, Köln, Bremen – Gegen die „Einheitsfeierlichkeiten“, für Bewegungsfreiheit +++ 2.-4.10. in Poznan: Konferenz zum sozialen transnationalen Streik +++ 15.-17.10. in Brüssel: Aktionstage „Oxi! Basta! Enough! Build another Europe!“ +++ 16.-18.10. in München: 2. Internationale Schlepper-Tagung +++ Geplanter Tag X im Oktober! +++ Rückblicke: Wittenberg Refugee Bike Tour against racism; Alarmphone erhält Taz Panterpreis – Laudatio von Mely Kiyak +++
„Ertrinken, meine Damen und Herren,
ist ein leiser Vorgang. Im Gegensatz zur Panik, zum Weinen, Schreien, Um sich schlagen angesichts des drohenden Todes, ist der letzte Moment des Lebens auf dem Meer so leise, dass man außer Wellengang nichts hört…“ So beginnt die verstörend-eindrucksvolle Rede von Mely Kiyak, die sie am 19. September anläßlich der Verleihung des Taz Panter Preises an das Watch The Med Alarmphone gehalten hat. (http://taz.de/Laudatio-von-Mely-Kiyak/!161089/)
Ohne lange politische Erklärung wird die Laudatio zu einer bitterscharfen Anklage, und zu einer aktuellen zugleich. Über 50 Menschen – Frauen, Männer, Kinder – sind in den letzten zwei Wochen allein in der Ägäis ertrunken. Als „leiser Vorgang“, den mensch den Verantwortlichen in Brüssel und Berlin umso lauter ins Gesicht schreien möchte…
Liebe Freundinnen und Freunde!
In Edirne protestierten in den letzten Wochen tausende Schutzsuchende für einen Fluchtweg über Land. Sie hatten zu einem Marsch auf die EU-Landgrenze nach Griechenland aufgerufen, weil sie das Sterben auf See nicht weiter riskieren wollen. Die Türkische Regierung reagierte als Wachhund: Flüchtlinge durften den Ort ihrer Registrierung nicht mehr verlassen und keine Busse mehr benutzen. Sie wurden zurückgedrängt und UnterstützerInnen werden kriminalisiert (siehe unten). Viele müssen nun doch mit dem Boot Richtung Lesbos und anderer griechischer Inseln, also erneut ihr Leben riskieren, wenn sie nach Europa gelangen wollen.
Doch haben sie diese Etappe übers Meer geschafft, ist der Weg danach für die meisten bis Deutschland oder gar Schweden in 10 bis 20 Tagen zu schaffen. Denn die Balkanroute wurde regelrecht frei gekämpft in den letzten Wochen. Keine Regierung von Mazedonien über Serbien, Kroatien, Ungarn, Österreich und Deutschland traut sich momentan, die Geflüchteten aufzuhalten. Die Angst vor neuen Massenprotesten geben den Fluchtbewegungen eine enorme Kraft, so dass zwischen Kroatien und Serbien aktuell sogar ein groß angelegter zwischenstaatlicher Fluchthilfedeal über die grüne Grenze praktiziert wird (siehe unten).
Budapest, der „March of Hope“ am 4. September, ist noch in aller Erinnerung, er markierte einen neuen Höhepunkt im Kampf um Bewegungsfreiheit. Tausende machten sich zu Fuss auf den Weg, als ihnen die Züge verweigert wurden. „Davon inspiriert kam ein neuer Schub von Refugee Welcome-Initiativen in Gang, verknüpft mit einer riesigen medialen Aufmerksamkeit, nicht nur in Deutschland und Österreich überwiegend in positiv-solidarischer Berichterstattung für die Geflüchteten. Bei allen ‚Ambivalenzen dieser Hegemonie‘ – von bisweilen unerträglichem Paternalismus oder Nützlichkeitsdiskursen inklusive Unterscheidung in gute und schlechte Flüchtlinge – sehen wir ein gesteigertes Potential für eine transnationale antirassistische Bewegung, die den „‚langen Sommer der Migration‘ weiter erfolgreich flankieren kann“, formuliert das Netzwerk transact in einem aktuellen Text. „Fluchtwege offenhalten“ wird dementsprechend gefordert und gleichzeitig zwei weitere zentrale Herausforderungen benannt: die Thematisierung der Fluchtgründe sowie die Entwicklung übergreifender sozialer Kämpfe:
„Wie wird es weitergehen in Europa und in Deutschland? Gelingt den Herrschenden die Eindämmung der erfolgreichen Flüchtlingskämpfe? Suchen sie notfalls verstärkt den Pakt mir rechtspopulistischen und rassistischen Parteien und Organisationen? Gelingt eine soziale Spaltung im Unten? Das Teile und Herrsche im gegeneinander Ausspielen sozialer Bewegungen? Oder kann der Impuls der Autonomien und Kämpfe der Migration in andere soziale Fragen übergreifen? Können die Märsche der Hoffnung Mut machen und eine neue Dynamik sozialer Kämpfe in Europa entfachen? Freiheit, Würde, Demokratie, soziale Sicherheit für sich und ihre Familien…, dafür demonstrieren die Menschen auf der Flucht mit allem Einsatz, dafür lassen sie sich von Zäunen und Grenzen nicht aufhalten. Sie wollen ankommen am Ort ihrer Wahl, zumeist bei Verwandten und FreundInnen quer durch Europa, dort die Sprache lernen, vernünftig wohnen, arbeiten, leben.
‚Solidarity for all‘, der Slogan emanzipativer Netzwerke Griechenlands, wäre aufzugreifen, um alle Spaltungsversuche offensiv zu bekämpfen und gleichzeitig die ‚Normalität der Austerität‘, die Politik der Sozialkürzungen und Prekarisierung neu anzugreifen. Bezahlbare Wohnungen für alle durch neue Wohnungsbauprogramme, Zugang für alle zu gesundheitlicher Versorgung und Bildung, bedingungslose Grundeinkommen und erhöhte Mindestlöhne: diese sozialen Forderungen können und müssen mit neuem Leben gefüllt werden, durch soziale Aneignung und soziale Streiks, lokal bis transnational.
Die erfolgreichen Kämpfe der Flüchtlinge und MigrantInnen haben die soziale Frage mit neuer Wucht auf die Tagesordnung gesetzt. Greifen wir sie auf, reißen wir die Grenzen nieder, in allen Ländern, in allen Köpfen!“
In diesem Sinne wünschen wir weitere tatkräftige Wochen.
P.S.: Dieser Newsletter erscheint eher zufällig am 3. Oktober, wenn überall in Deutschland und dieses Jahr besonders in Frankfurt am Main „25 Jahre Deutsche Einheit“ gefeiert wird. Das offizielle Motto lautet tatsächlich „Grenzen überwinden“, es war und ist eigentlich der pure Hohn angesichts der tödlichen Ausgrenzungspolitik, für die insbesondere die deutsche Politik seit Jahrzehnten steht. Jetzt passt der Slogan aber bestens zur Zeit, weil jeden Tag tausendfach quer durch Europa von den Menschen praktiziert, die eigentlich ausgeschlossen bleiben sollten…
P.P.S.: Wir freuen uns sehr, dass sich mittlerweile auch berüchtigte Billigfluggesellschaften in die Flüchtlingssolidarität einreihen
http://ryanfair.org/
mit besten Grüßen,
die Kompass-Crew